Die Nikolaikirche  in Kalbe an der Milde
aus bauhistorischer Sicht

von Ulf Frommhagen/Seethen

Der Ort Kalbe (Milde) wird erstmalig im Jahr 983 in der Bischofschronik des Thietmar von Merseburg (1018†) genannt. Im Sommer 983 wurde in "Calvo" oder "Calva", so die frühmittelalterliche Schreibweise für Kalbe, das Nonnenkloster St. Laurentius beim großen Slawenaufstand zerstört. Bei dieser Erhebung gingen alle deutschen Besitzungen in den östlich der Elbe gelegenen slawischen Gebieten für etwa 150 Jahre verloren. Das Lorenzkloster in Kalbe ist mit größter Wahrscheinlichkeit zwischen 955 und 960 gegründet worden. Somit besitzt Kalbe (Milde) eine herausgehobene Stellung als eine der wenigen sehr früh bezeugten Missionspunkte bzw. Kirchenstandorte in der Altmark. Ein vielleicht noch älterer Kirchenstandort könnte sich auf dem Petersberg am heute westlichen Stadtrand von Kalbe befunden haben. Bis zum Anfang des 16. Jahrhunderts hat sich dort eine Peterskapelle befunden. Es kann davon ausgegangen werden, dass sich an dieser erhöhten Lage ein altes St. Peter Patrozinium befunden hat, dessen Gründung noch in karolingischer Zeit, im 9. Jahrhundert erfolgt ist. Bei der Errichtung des Wasserturms im Jahr 1953 ist hier ein christliches Gräberfeld aus dem frühen Mittelalter entdeckt worden. Durch Thietmar von Merseburg ist überliefert, dass das Lorenzkloster in einer Burg gelegen hat. Es ist jedoch davon auszugehen, dass nicht die jetzige Burg der Standort war. Archäologische Funde und der Flurname Lorenzkirchhof weisen den Klosterbezirk in dem Teil des Stadtgebietes aus, das heute von der Gartenstraße, der Stendaler Straße und der Bahnhofstraße begrenzt wird. Die heutige Wasserburg ist wohl erst in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts an diese Stelle verlegt worden. Sie war in der Altmark die zweitgrößte Befestigungsanlage nach der Burg Tangermünde. Im Jahr 1196 wird Kalbe als Burgward erwähnt. Der Burgward befand sich zur Hälfte in markgräflichem Besitz, die andere Hälfte gehörte vermutlich den Edelfreien von Kalbe. Die Burg deckte die Fernstraße Magdeburg - Salzwedel. Mit der Anlage der Stadt zwischen künstlich angelegten Mildearmen im Zweistraßensystem wurde die Fernstraße derart verlegt, dass sie fortan durch die Stadt führte. Kalbe wird das erste Mal 1240 als Stadt in der sächsischen Fürstenchronik erwähnt. Trotz räumlichen Abstands war das Schicksal der Stadt immer eng mit der Burg verknüpft. Offensichtlich ist im Schutze der Burg, vielleicht sogar als Erweiterung einer älteren Siedlung, um die vermutlich am Anfang des 13. Jahrhunderts errichtete Nikolaikirche, eine Kaufmannsiedlung entstanden. Hinsichtlich der Herkunft des Nikolauspatroziniums existieren verschiedene Überlegungen, auf jeden Fall war aber der Heilige Nikolaus Schutzpatron der Kaufleute. In vielen mittelalterlichen Städten und Marktflecken der alten Mark Brandenburg finden sich Kaufmannskirchen, die dem Hl. Nikolaus geweiht wurden. Diese Nikolaikirchen sind Gründungen aus der Zeit der Brandenburgischen Markgrafen; so ist es auch in Kalbe. An der Südostecke der durch einen Lokator angelegten Stadtsiedlung befindet sich die Stadtkirche St. Nikolai. Sie ist in der Tradition frühester Missionstätigkeit in der Nähe des am Ende des 10. Jahrhunderts untergegangenen Lorenzklosters und einer wohl noch älteren Peterskapelle entstanden. Diesmal jedoch als Gotteshaus einer christlichen Gemeinde zu Beginn des 13. Jahrhunderts, in der sich allmählich reformchristliches Gedankengut durchsetzte. Die heutige Kirche ist ein vom Barock geprägter kreuzförmiger Feld- und Kalksteinbau mit spätromanischem Westquerturm. Im Kern ist sie jedoch eine romanische Saalkirche. Sie war keine Basilika im Kleinformat, noch ein mit Anbauten erweitertes Haus. Bei ihr lag das Charakteristikum in der markanten Stufung von Apsis(?), Chor, Schiff und Westturm im Grundriss wie als Baukörper. Diese Stufung war auch im Inneren ablesbar. Ob der romanische Vorgänger eine halbkreisförmige Apsis oder einen geraden Chorabschluss besessen hatte, lässt sich nicht erschließen. Die Kirche besaß ursprünglich keinen Westeingang und war doppelpolig konzipiert. Der eine Pol befand sich im Altarraum im Osten, der schmaler und niedriger als das Schiff war und der zweite Pol befindet sich noch im Westquerturm , der seine Kürze durch Höhe kompensiert. Das Schiff oder auch Saal, ist zwischen den beiden Polen als Gemeinderaum des Ortes eingespannt. Bei Eintritt in die Kirche wendet sich der Blick entweder nach Osten zum Allerheiligsten, dem Altar, oder nach Westen, zum Turmbereich. Der Mensch im Mittelalter hatte die Vorstellung, dass das Heilige Jerusalem im Osten, im Mittelpunkt der Welt lag, dort wo die Sonne aufgeht. Durch das Ostfenster des Altarraumes bzw. der Apsis scheint die Sonne des neuen anbrechenden Tages auf den Altartisch. Im Westen, dort wo die Sonne untergeht, glaubte man in der Dunkelheit alles dämonische zu sehen. Daher auch die ehemalige Staffelung der alten Nikolaikirche zu Kalbe, wo der breite Westturm wie ein Querriegel schützend vor den Gemeinschafts- und Altarraum gestellt wurde. Schiff und Altarraum waren ursprünglich durch einen Triumphbogen und eine Fußbodenstufe getrennt. Ein ähnlicher Rundbogen existiert heute noch zwischen Schiff und Turmuntergeschoss. Er ist heute zum Teil zugesetzt. Der Altarraum diente in vorreformatorischer Zeit ausschließlich dem Priester und seinen liturgischen Handlungen. Im Triumphbogen hing das Kruzifix. Welche Funktion das mit einer Quertonne gewölbte Turmuntergeschoss besessen hatte, das durch eine weite Bogenöffnung mit dem Schiff verbunden war, lässt sich heute nicht mehr erschließen. Vermutlich diente es eher weltlichen Handlungen, wie z. B. der Taufe, denn die Taufen standen ursprünglich immer im Westen der Kirche. Auch Trauungen und Sendgerichte können hier vollzogen worden sein. Ursprünglich gelangte man nur durch einen in etwa fünf Meter Höhe angelegten Eingang an der Nordseite in den Turm . Die Tonne schloss das Turmuntergeschoss zu den Obergeschossen ab. Der Hocheingang wird heute noch in der Altmark in der niederdeutschen Mundart als "Luerlock" (Lauerloch) bezeichnet. In Zeiten der Gefahr bestand die Option, durch den Hocheingang zu "türmen". Der Kirchturm diente eben nicht nur als Glockenträger, sondern auch zur kurzfristigen Zuflucht und als Ort des Asyls. Hocheingänge und Herrschaftslogen in Westtürmen waren allerdings immer der lokalen Grundherrschaft vorbehalten. Offensichtlich hat sich in Kalbe noch nach 1150 eine gemilderte Form des Eigenkirchenwesens fortgesetzt. An der Nikolaikirche in Kalbe sind somit seltene Befunde des romanischen Vorgängers erhalten geblieben, bei der eine ehemalige doppelpolige Kirchenanlage für eine frühe Stadtkirche vermutet werden darf, in der sich für gewöhnlich die geistliche Gewalt im Ostbau und die weltliche im Westen - im Westwerk, Turmbau oder Gegenchor - darstellte. Wegen der anzunehmenden voll ausgeprägten Bipolarität am romanischen Vorgänger der Nikolaikirche, besitzt Kalbe (Milde) einen besonders eindrucksvollen Zeugen der eigenkirchlich bestimmten Sakralarchitektur des Hochmittelalters. Der Burgward Kalbe wurde seit dem hohen Mittelalter von den unterschiedlichsten Burgmannsgeschlechtern aber auch von den Grafen von Osterburg/Veltheim verwaltet. In der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts erwerben die von Alvensleben die Burg. Sie wird der Stammsitz der schwarzen Linie derer von Alvensleben. Ab dieser Zeit ist von Zuwendungen dieses Adelsgeschlechts an die Nikolaikirche auszugehen. Zahlreiche qualitätsvolle Grabmäler und Epitaphen des 16. und 17. Jahrhunderts sowie die zwei verglasten Herrschaftslogen aus dem 18. Jahrhundert belegen allein schon die enge Verbundenheit dieser Familie mit der Nikolaikirche. Ob der um 1400 entstandene südliche Anbau, heute der südliche Kreuzarm, auf die von Alvensleben zurückgeht, ist nicht überliefert. Nach der Reformation wird in den Jahren von 1569 bis 1573 der Altarraum verlängert. Der umfassendste Umbau erfolgte erst 1754/55, zu dieser Zeit wird der romanische Saalbau wohl aus Platzgründen endgültig aufgegeben, die äußere Gestalt ändert sich völlig. Die Kirche wird mit barocken Öffnungen kreuzförmig umgebaut, an der Südseite des Chores entsteht ein langgestreckter Sakristeianbau. Auch das Innere wird barock mit Flachdecke auf Voute, dreiseitigen gebrochenen Emporen in den Kreuzarmen, den Herrschaftslogen und der Orgelempore im Chor umgestaltet. Die Kirche bekam dabei ein einheitliches Walmdach. Im doppelt liegenden Fettendachstuhl aus Nadelholz sind mehrere Eichenhölzer eines mittelalterlichen Dachwerkes wiederverwendet worden. Eine dendrochronologische Untersuchung wurde vor kurzem vorgenommen, Ergebnisse liegen noch nicht vor. Beim barocken Umbau wurden auch die Wände im Winkel von Chor und Kreuzarmen abgeschrägt. An der südlichen Abschrägung befindet sich eine über den Sakristeianbau erschlossene polygonale Renaissancekanzel vom Anfang des 17. Jahrhunderts. Aus der Renaissance stammt auch die kelchförmige Steintaufe , sie datiert um die Mitte des 16. Jahrhunderts. Von der mittelalterlichen Ausstattung sind vier spätgotische Schnitzfiguren erhalten, sie gehörten ursprünglich zu einem Schnitzretabel. Im Turm ist eine große Bronzeglocke von 1642 erhalten, sie wurde von Heinrich Borstelmann in Braunschweig gegossen.

Seethen, d.
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zum Rundgang um die Kirche
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